„Rote Kapelle“ in Allensbach?

Von jeher war die sehr heterogene NS-Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“, deren führende Mitglieder Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack 1942 verhaftet wurden, Gegenstand von Mythenbildungen und politischen Instrumentalisierungen.

Im Artikel „Rote Agenten unter uns“ (FAZ, 28. Dezember 2015, S. 6) zeigt der Historiker Gerhard Sälter auf, wie sehr die „ideologisch überformte Fehldeutung“ der „Roten Kapelle“ als einer vom sowjetischen Geheimdienst gesteuerten Gruppe in der frühen Bundesrepublik fortgesetzt wurde. An dieser medial aufbereiteten Legendenbildung waren Akteure der DDR-Propaganda und Alt-Nazis, insbesondere die Organisation Gehlen, aus der 1956 der Bundesnachrichtendienst (BND) hervorging, gleichermaßen beteiligt. Sie führte zu zahlreichen Spekulationen und Verdächtigungen, die eine historische Aufarbeitung der „Roten Kapelle“ eher beeinträchtigten, wie Sälter darlegt.

So gerieten sogar Adenauers bis 1953 amtierender Staatssekretär Otto Lenz, der wegen seiner Beziehungen zum NS-Widerstandskreis nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 vom Volksgerichtshof zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, und auch Elisabeth Noelle-Neumann ins Visier der im Zusammenhang mit der „Roten Kapelle“ von der Organisation Gehlen beobachteten Personen. Elisabeth Noelle-Neumann sei, so Sälter, zunächst aufgrund „einer Namensverwechslung“ und dann wegen ihrer als verdächtig eingestuften Auslandsbeziehungen nach England und in die USA observiert worden.

Doch könnte auch ein bislang unbekannter Aspekt zur geheimdienstlichen Beobachtung beigetragen haben: Erich Peter Neumann, der erste Ehemann Elisabeth Noelle-Neumanns, war mit einer zentralen Figur der „Roten Kapelle“, dem Berliner Elektrounternehmer Leo Skrzypczynski, befreundet. Kurz vor dessen Verhaftung am 20. September 1942 habe Neumann einen Koffer mit Unterlagen der Widerstandsgruppe übernommen. Neumanns Besuche von Skrzypczynski im Konzentrationslager Sachsenhausen ab 1943 vertieften die Freundschaft, die über das Kriegsende hinaus anhielt, als Skrzypczynski von 1945 bis 1948 als Präsident der Deutschen Zentralverwaltung für Industrie in der Sowjetischen Besatzungszone amtierte. Erika Skrzypczynski war jahrzehntelang Sekretärin im von Neumann geleiteten Bonner Büro des Instituts für Demoskopie Allensbach.

Aktuelle Informationen zu diesem Thema finden Sie hier.

Print Friendly, PDF & Email
Print Friendly, PDF & Email