Lebenslauf von Fred von Hoerschelmann
Fred von Hoerschelmann wurde am 16. November 1901 als zweites Kind von Elisabeth (geb. Sevecke) und Martin von Hoerschelmann im estnischen Hapsal (Haapsalu) geboren. Nach dem Besuch der Domschule in Reval (Tallinn) studierte er von 1921 bis 1925 an der Universität Dorpat (Tartu) zunächst Chemie und später an der Ludwig-Maximilians-Universität München Philosophie, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft.
Seine schriftstellerische Laufbahn begann 1927 mit der Veröffentlichung zahlreicher Erzählungen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem im Berliner Tageblatt, in der Vossischen Zeitung, in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Zeitung. Das Spektrum dieser frühen Erzählungen reicht von grotesk-humorvoll bis melancholisch-tiefernst und behandelt Themen wie Liebe, Eifersucht und Leidenschaft ebenso wie Fragen der Identität und des täglichen Überlebenskampfes.
In Hapsal entstand 1928/29 Hoerschelmanns erstes Hörspiel Die Flucht vor der Freiheit, das deutschlandweit Erfolg hatte und bis heute zu den Klassikern aus der Frühzeit des Hörspiels zählt. Zwei Realisationen dieses Hörspiels sind erhalten, eine Bearbeitung Arnolt Bronnens, die unter dem Titel Der Weg in die Freiheit am 3. Januar 1933 bei der Berliner Funkstunde (mit Heinrich George in der Rolle des Maschinisten Rauk) gesendet wurde und eine auf Grundlage der Bronnen-Fassung entstandene neue Fassung, produziert 1959 vom Norddeutschen Rundfunk Hamburg, in der – ein bislang einmaliges Projekt – die Stimme Heinrich Georges aus der Aufnahme von 1933 herauskopiert und neuen Sprechern gegenübergestellt wurde.
Die Ankündigung seines zweiten Hörspiels Urwald (1932) machte die damals 15-jährige Elisabeth Noelle (später Noelle-Neumann) auf ihn aufmerksam. Sie schrieb ihm am 19. Juni 1932 einen Brief, der den Auftakt zu einer mehr als 40 Jahre währenden Korrespondenz und engen Freundschaft zwischen den beiden bildete. Dass er auf den „seltsamen Ausbruch des Backfischhaften“, wie Noelle-Neumann ihren Brief rückblickend bezeichnete, überhaupt antwortete, mag erstaunen. Jahre später führte sie es auf seine Menschenkenntnis zurück, dass er ihr seinerzeit zurückgeschrieben hatte: „Du musst mit dieser Kenntnis schon diesen ersten Brief gelesen haben, und das beweist zu einem gewissen Grade, dass sich diese Kenntnis […] nicht auf mich beschränkt.“
Im selben Jahr wurde sein Hörspiel Die wirkliche Unschuld nach einer Komödie von Alfred de Musset, nachdem es von der Westdeutschen Rundfunk AG (WERAG) zunächst angenommen worden war, aufgrund seines französischen Sujets abgelehnt. Als die Tätigkeit für verschiedene Zeitungen und den Rundfunk in Anbetracht der politischen und strukturellen Veränderungen immer schwieriger wurde, entschloss sich Hoerschelmann, der bis 1937 zeitweise in Berlin lebte, endgültig nach Estland zurückzukehren, wo ihn 1939 die nationalsozialistische Machtpolitik einholte.
Zusammen mit seiner Frau Liselotte (geb. von Buxhoeveden), die er 1938 geheiratet hatte, wurde er nach Hohensalza (Inowrocław) in den kurz zuvor von den deutschen Truppen besetzten Reichsgau Wartheland umgesiedelt. Dort war er zunächst in einer Bank und später im Besoldungsbüro der Schulbehörde angestellt. Parallel entstanden die beiden Dramen Die zehnte Symphonie, uraufgeführt am 19. April 1941 in Aussig (Ústí nad Labem), und Wendische Nacht, das am 26. Februar 1942 im Staatsschauspiel Hamburg seine Premiere feierte. Trotz Unabkömmlichstellung musste Hoerschelmann damit rechnen, zur Wehrmacht eingezogen zu werden. Der unmittelbar bevorstehenden Einberufung kam er 1942 zuvor, indem er sich freiwillig zur Wehrmacht meldete, um im Dienstgrad eines Sonderführers (Z) als Dolmetscher eingesetzt zu werden. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges und kurzer Kriegsgefangenschaft ließ Hoerschelmann sich Ende 1945 in Tübingen nieder, wo er fortan als freier Schriftsteller lebte.
Fred von Hoerschelmann beobachtete das literarische Geschehen seiner Zeit genau und setzte sich intensiv mit in- und ausländischen Neuerscheinungen auseinander. So entstanden 1947 ein Aufsatz über Die französische Literatur der letzten zwanzig Jahre und von 1948-1950 fünf Funkessays zur französischen Literatur, die im Nachtprogramm des NWDR ausgestrahlt wurden. Er war Stammgast in der Tübinger Buchhandlung Gastl, deren Inhaberinnen, Julie Gastl und Gudrun Schaal, ihn regelmäßig mit Neuerscheinungen der französischen, englischen und spanischen Literatur versorgten, die er oft noch vor der deutschen Übersetzung im Original las. In der Buchhandlung Gastl lernte Hoerschelmann, der sonst den Kontakt zu anderen Schriftstellern eher mied, im Winter 1972 Ingeborg Bachmann kennen: „[…] wir haben uns zwei Stunden lang sehr unbeschwert und angenehm unterhalten, ich empfand spontan eine starke Sympathie für sie. […] Ihren Tod erfuhr ich in Piazzogna. Ich konnte tagelang an nichts anderes denken.“ (Hoerschelmann an Noelle-Neumann, 26.11.1973)
Im Jahre 1950 erschien Fred von Hoerschelmanns Erzählungsband Die Stadt Tondi. Die darin gesammelten Erzählungen – Schnee, Aale sind zart und Die schweigsame Insel wurden 1952 mit dem ersten Preis des Literaturwettbewerbes des Landes Württemberg-Hohenzollern ausgezeichnet – spielen in der an Hapsal angelehnten imaginären estnischen Stadt Tondi. In den zumeist monologischen oder sich auf eine Figur konzentrierenden Erzählungen werden dissoziierte Menschen porträtiert. Im Mittelpunkt dieser Erzählungen stehen existentielle Fragen des menschlichen Lebens und Konflikte, die um Schuld, Verantwortung und Gewissen kreisen. Hoerschelmann wird hier als ein erfindungsreicher Erzähler mit einem Scharfblick für menschliche Abgründe erkennbar.
Von 1949 bis zu seinem Tod 1976 entstanden 21 Hörspiele. Zu seinen bekanntesten Originalhörspielen zählen Die verschlossene Tür (1952), Das Schiff Esperanza (1953), Die Saline (1958) und Dichter Nebel (1961). Gemessen an der Zahl der Übersetzungen und Produktionen im In- und Ausland ist Das Schiff Esperanza das erfolgreichste deutsche Hörspiel. Auch in den Kanon der Pflichtlektüre an allgemeinbildenden Schulen wurde das Hörspiel Das Schiff Esperanza aufgenommen, weil es das Packende einer spannenden Handlung prototypisch mit gattungsspezifischen und dramaturgischen Eigenschaften vereint und damit die mediale Komponente der Literatur beispielhaft darstellt. Darüber hinaus haben die dargestellten Konflikte um illegale Einwanderung, Menschenhandel und Generationenproblematik heute wieder eine große Aktualität. Parallel zu den Originalhörspielen entstanden ab Anfang der 1950er Jahre mehr als 30 Funkbearbeitungen nach Roman- und Dramenvorlagen.
In seinen Hörspielen bediente sich Fred von Hoerschelmann der modernen Techniken des Rundfunks und entwickelte neue Formen literarischer Repräsentation, wie sie nur im Hörspiel möglich sind. Dieser Zusammenhang von Tradition und Innovation ist charakteristisch für das Hörspielwerk Fred von Hoerschelmanns. Der Formenreichtum seiner Hörspiele wird durch eine Fülle an literarischen, strukturellen und dramaturgischen Gestaltungsmöglichkeiten und nicht zuletzt auch die inhaltlich-thematische Vielfalt erkennbar. Sein funkakustisches Œuvre reicht vom „realistischen Problemhörspiel“ über die Komödie bis zur Groteske, von realen über absurde bis hin zu fiktionalen Stoffen und vom historischen bis zum futuristischen Sujet. Durch eine innovative Hörspielpoetik der „Krise des Erzählens“ entgegenzuwirken, war Fred von Hoerschelmanns Anspruch.
Fred von Hoerschelmanns Hörspiele zeichnen ein detailliertes Bild der deutschen Nachkriegsgesellschaft und halten ihr zugleich einen Spiegel vor. Die Figuren müssen, auf sich allein gestellt, in einer für sie bedrohlichen oder nicht durchschaubaren Situation Entscheidungen treffen. Das novellistische Erzählen mit einem zumeist dramatisch zugespitzten offenen Schluss, der den Hörer auffordert, nach einer Lösung zu suchen, und der Umgang mit existentiellen Fragen des menschlichen Lebens kennzeichnen Hoerschelmann als „Meister der Hörspieldramaturgie“ (Heinz Schwitzke) sowie als „Romancier des Radios“ (Hans-Ulrich Wagner).
Fred von Hoerschelmann starb am 2. Juni 1976 in Tübingen. Seine langjährige Freundin, die Schauspielerin Helen von Münchhofen, erbte seinen Nachlass und übergab ihn dem Deutschen Literaturarchiv Marbach. In seinem in der FAZ erschienenen Nachruf würdigte ihn Marcel Reich-Ranicki als disziplinierten und exakten Erzähler, als einen Meister seines Handwerks, der funkakustische Mittel wie kaum ein anderer zu verwenden wusste: „[…] er zeigte die Menschen als Opfer einer bedrohlichen und nicht durchschaubaren Macht, er zeigte das Individuum, das scheitert, weil es seine Umwelt nicht zu begreifen vermag“.
Hagen Schäfer
Literatur und Materialien:
Hagen Schäfer: Das Hörspielwerk Fred von Hoerschelmanns, Berlin 2013, S. 24-45.
Hagen Schäfer: Werk- und Veröffentlichungsverzeichnis von Fred von Hoerschelmann.